Frau Scherbakowa, die russische Opposition im Land wurde von Wladimir Putin aus dem Weg geräumt. Doch es gibt viele putinkritische Organisationen im Exil – darunter die Menschenrechtsorganisation „Memorial“, deren Gründungsmitglied Sie sind. Warum schließen sie sich nicht zusammen?
Was heißt es, sich zusammenzuschließen? Nur, weil die Menschen sich gegen Putin und gegen den Krieg positionieren, heißt es nicht, dass sie auch in anderen politischen Fragen einig sind. Sie sind zudem in verschiedenste Länder zerstreut. Und es fehlt schlicht der politische Kern, um den sich die liberal-oppositionell gesinnten Russen vereinigen könnten.
Alexej Nawalny wurde in Russland mit seiner Stiftung zur Bekämpfung der Korruption zu einer solchen Figur, vor allem bei den Vertretern der jüngeren Generation – und genau deshalb wollte man ihn umbringen, deshalb ist er eingesperrt und zu 19 Jahren Straflager verurteilt worden. Warum er überhaupt nach Russland zurückgekehrt ist?
Oder warum Wladimir Kara-Mursa und Ilja Jaschin in Russland geblieben sind, wo sie auch zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden? Weil sie im Gefühl hatten, dass nur eine solche Entscheidung ihren Kampf gegen Putin überzeugend macht. Nicht der Versuch, eine Art „Exilregierung“ zu gründen, um Russen im Ausland hinter sich zu versammeln. Ihre wichtigste Botschaft ist: Wir haben keine Angst, also sollt ihr auch keine Angst haben! Aber das ist eine ewige Kontroverse – was kann man von außen und was kann man von innen bewirken?
Hat der Wagner-Aufstand gezeigt, dass Veränderung in Russland weiterhin von innen möglich wäre?
Es war kein Aufstand, es war eine Revolte der Söldner, die mit der Kriegsführung nicht einverstanden waren. Was sie gezeigt hat, ist, dass man die vermeintliche Betonwand, die Putin um seine Macht aufgebaut hat, anscheinend doch einreißen kann.
Deshalb ist es die Aufgabe liberaler Russen, sich auf den Moment vorzubereiten, in dem sie eingerissen wird. Wir dürfen auf keinen Fall denselben Fehler machen wie in den 90er Jahren, als man dachte, jetzt ist endgültig eine neue Zeit angebrochen und es wird nie wieder ein autoritäres Regime geben. Nein, der Wind kann in eine andere Richtung wehen, das sehen wir an den Entwicklungen, die letztendlich zum Krieg gegen die Ukraine geführt haben.
Die Ukrainer sind zunehmend enttäuscht von den russischen Exilliberalen. Sie werfen ihnen vor, nicht überzeugt genug für die Ukraine zu kämpfen, sondern um sich selbst zu kreisen. Sie behaupten, es gäbe keine „guten Russen“. Als Mitgründerin von „Memorial“ sind Sie mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Würden Sie sich als „gute Russin“ bezeichnen?
Ich kann diese Gefühle sehr wohl verstehen. Und die Frage: Warum habt ihr es zugelassen, dass das Land unter Putin sich in das verwandelt hat, was es heute ist?
Wir Russen stehen auch vor dieser Frage. Und es nützt nichts, jetzt darüber zu sprechen, dass man das Wesen von Putin von Anfang an erkannt hat. Dass Putins Hintergrund in der Staatssicherheit gefährlich sein würde, zeigte sich ja schnell. Allerdings haben viele Russen weggeschaut oder dachten, dass mit ihm nun wirklich Stabilität kommen würde.
Für mich als Historikerin sind diese Kategorien von „gut“ und „schlecht“ allerdings eine sinnlose Konstruktion. Die Linie verläuft nicht zwischen Menschen, die für oder die gegen Putin sind, sondern zwischen denen, die nichts tun, und denen, die sich bemühen, etwas gegen diesen Krieg zu auszurichten.
Wann erkannten Sie zum ersten Mal, dass Putin die Gesellschaft spaltete?
Deutlich sichtbar wurde das zum ersten Mal 2011, bei den ersten Massendemonstrationen in den Großstädten gegen Putins Regime. Grund waren die gefälschten Duma-Wahlen. Das war eine Zäsur. Putins neue Amtszeit 2012 begann mit verstärkten Repressionen gegen die Zivilgesellschaft.
Wo war die Opposition gegen Putin vor 2011?
Es hat sie durchaus gegeben. Auch die Presse war damals noch nicht gleichgeschaltet. Allerdings war die Opposition in Russland nie in sich geschlossen. Verschiedene Persönlichkeiten gründeten neue Parteien. Und die haben sich manchmal gegen Putin zusammengeschlossen, wie etwa im Jahr 2011. Aber daraus ist nie eine stabile Einigung entstanden.
Warum gelang das nie? Die ukrainische Opposition war auch sehr divers, und doch vereinigte man sich im Kampf gegen die russische Einflussnahme.
In der Ukraine hat man sich auch gestritten. Denken wir an Konflikt zwischen Julia Timoschenko und Petro Poroschenko. Ich glaube aber, wenn die Gefahr von außen so groß ist, vereint das die Menschen zeitweilig.
In Russland wussten die Menschen, dass in Wirklichkeit keine Gefahr von außen droht. Auch, wenn man im Kreml nicht müde wird, dies zu betonen. In der russischen Opposition wusste man ebenfalls: Die eigentliche Gefahr kommt von innen. Da ist es viel schwieriger, sich zusammenzufinden.
Hängt das mit Russlands früherer Großmachtstellung zusammen?
Als die Sowjetunion zerfallen ist, haben ihr, glaube ich, ganz wenige nachgeweint. Aber sehr bald gab es den tschetschenischen Krieg, mit dem man schon die bösen Geister aus der Flasche ließ. Dieser Krieg hat Putin den Weg zur Macht geebnet. Und dann nährte man die Bevölkerung jahrelang mit großrussischen imperialen Ressentiments.
Zudem haben sich die Liberalen immerzu gestritten, weil die einen vermeintlich nationalistische Aussagen getätigt haben, die den anderen missfielen. So wollte die Jabloko-Partei mit etlichen anderen Parteien nicht mehr paktieren. Eigentlich hätten sie alles tun müssen, um Differenzen zu überbrücken und sich zusammenzuschließen, aber sie haben die Gefahr, die von Putin ausging, unterschätzt.
Dieses Versäumnis werfen auch viele Ukrainer der russischen Opposition vor ...
Die Geschichte ist nie schwarzweiß. So war es in den Großstädten für die Menschen viel einfacher, Widerstand zu leisten und auf Demos zu gehen, als in den kleinen Städten, wo man sich oft alleine fühlte im Kampf gegen die Macht.
Hinzu kommt, dass man in Russland den „goldenen Regen“ durch den Öl- und Gashandel in den Nullerjahren vor allem Putin zugeschrieben hat. Auch Korruption, als wichtige Säule von Putins Regime, stand dem Widerstand im Weg. Und dann wurde der Widerstand mit immer stärkerer Gewalt und Repression bekämpft.
Hier möchte ich eine andere Frage einwerfen: Was sind überhaupt „die Russen“ in einem Land, in dem es Tartaren, Völker in Dagestan, Buratjen und Tschetschenen gibt? Die würden sich selbst nicht unbedingt als Russen bezeichnen. Das ist eine komplizierte Frage.
Klar ist: Putin überschritt viele „rote Linien“ – vom Krieg 2007 gegen Georgien bis zur Krim-Annexion, einer absoluten Verletzung der europäischen Sicherheitsarchitektur. Aber das wurde auch in Europa nicht ernst genug genommen. Bis zum Februar 2022. Memorial hat die Annexion damals klipp und klar verurteilt.
Nawalny und einige andere Oppositionelle dagegen nicht sofort.
Ich glaube, dass manche schon ziemlich bald gesehen haben, wohin die Reise geht. Es fanden auch Demonstrationen in Moskau und in Petersburg gegen die Krim-Annexion statt. Natürlich waren sie nicht so groß wie die Demos 2011, aber es waren Tausende von Menschen. Von daher: Ja, da spaltete sich die Gesellschaft erneut. Und für mich war es besonders erschreckend, das in meinem persönlichen Umfeld zu beobachten.
Dass die Krim immer unser gewesen sei und dass es dort Missstände gegeben habe, dass unsere Schwarzmeerflotte dort hingehöre und dass die Mehrzahl der Menschen dafür gewesen sein soll. Mein Friseur in Moskau sagte zum Beispiel: „Du weißt, ich bin gegen Putin, aber dass er die Krim nach Hause zurückgeholt hat, rechne ich ihm hoch an.“ Aber es gab auch Intellektuelle, die diese Meinung teilten.
Wie passt das zusammen – gegen Putin und für die Krim-Annexion zu sein?
Man muss klar sagen, dass es sich hier mindestens um ein Doppeldenken handelt, um eine kognitive Dissonanz. Und die ist bei vielen Menschen in Russland stark ausgeprägt. Wir sehen das jetzt erst recht: Man will vielleicht den Krieg nicht, aber man sieht auch keine Alternative zu Putin, deshalb steht man doch zu ihm. Dieses Regime hat das aus den Menschen gemacht – und die Menschen haben das zugelassen.
Das ist die Folge von fast 24 Jahren Propaganda, Anpassung, Angst, Bestechung und der Vernichtung politischer, oppositioneller Stimmen. Die russische Bevölkerung hat sich immer mehr an die Unfreiheit und Gewalt gewöhnt.
Die Menschen wollen das aber nicht begreifen, oder nicht zugeben. Ich muss sagen, dass ich niemals gedacht hätte, dass es wirklich zu so einem katastrophalen Krieg kommen könnte, wie wir ihn seit fast eineinhalb Jahren sehen.
Empfindet die Mehrheit der liberalen, regimekritischen Russen diesen Krieg denn tatsächlich als Katastrophe?
Ich glaube schon. Das hat sich darin gezeigt, dass Hunderttausende Russen das Land nach dem Kriegsbeginn verlassen haben, und viele Antikriegsinitiativen entwickeln. Wie auch die Memorial. Und ich kenne sehr viele Menschen in Russland, die auch dort alles, was in ihrer Kraft steht, tun, um gegen diesen Krieg aufzutreten. Täglich gibt es Repressionen gegen solche Taten. Dazu braucht man Mut.
Denn in Russland gibt es Folter. Die Folter zu Stalins Zeit wurde geheim gehalten. Heute werden Menschen in den Strafkolonien ebenfalls gefoltert, gedemütigt, vergewaltigt – aber das ist bekannt. Wenn Demonstranten vom 70-jährigen Senioren bis zur jungen Studentin auf offener Straße von den Sicherheitsgarden zusammengeprügelt werden, kann man das in den sozialen Netzwerken sehen. Die Menschen wissen von der massiven Gewalt, die vom Staat ausgeht. Und sie akzeptieren sie.
Die augenscheinliche Passivität der russischen Bevölkerung wird häufig damit erklärt, dass sie Teil einer „russischen Mentalität“ sei.
Ich habe ein Problem mit dem Begriff „Mentalität“. Es gibt viele Familien, die russisch-ukrainische Wurzeln haben. Ein Teil meiner Familie etwa kommt ursprünglich aus der Ukraine, meine Großeltern beiderseits. Mein Vater, der 1941 aus dem damaligen Dnepropetrowsk in den Krieg zog, kehrte nicht nach Hause in die Ukraine zurück. Sein Haus war zerstört und einige Mitglieder der Familie lagen im Massengrab, also blieb er in Russland, um in Moskau zu studieren. Er war aber bis zu seinem Tod ein absoluter Putingegner, wie auch meine in Moskau geborene Mutter. Von welcher „Mentalität“ waren sie also geprägt?
Woran liegt es, dass die Ukraine sich vom Autoritarismus wegbewegen konnte und Russland nicht?
Die politische Kultur der Westukraine, die kürzer unter kommunistischer Herrschaft stand und wo es nach dem Zweiten Weltkriegs eine aktive Widerstandsbewegung gab, hat einen in meinen Augen sehr starken Einfluss gehabt. Die junge Generation der Ukrainer schaute deutlich in Richtung Europa. Und es gab keine imperiale Tradition, im Gegenteil: das Streben zur Unabhängigkeit. Diese politische Kultur konnte man schon seit dem ersten Maidan beobachten, und vor allem 2014. Die Menschen in Kiew waren bereit, für ihre Freiheit zu sterben.
In Russland hingegen trat man nie in dieser Form geeint auf. Die Proteste wurden nicht vom ganzen Land unterstützt, also wurden diese immer kleiner und dadurch auch gefährlicher für alle, die daran teilnahmen.
Russische Regimegegner könnten jetzt ebenfalls große Proteste im Exil organisieren.
Sie finden durchaus effektive Wege, ihren Protest auszudrücken, auch, wenn er nicht unbedingt in Form von Demonstrationen stattfindet. Sie gründen zum Beispiel viele unabhängige Medien. Oder treten mit den Antikriegsinitiativen auf. Sie versuchen auf diese Weise Zugang zu den Menschen in Russland zu bekommen.
Ich weiß, dass die Ukrainer oft nicht zufrieden damit sind, was in russischen Exilmedien gesagt wird. Dieser schreckliche Krieg steigert die Sensibilität für Worte, man muss darauf sehr achten. Es geht ja nicht um Selbstdarstellung, sondern um den Widerstand. Trotzdem finde ich es sehr wichtig, dass es unabhängige Medien gibt, weil sie zumindest die Chance haben, die Stimmung im Land zu beeinflussen.
Wir von Memorial haben uns nach der Liquidierung in Russland neu gegründet, in Berlin gibt es nun eine Exilorganisation namens Memorial-Zukunft. Eine der wichtigsten Fragen, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, ist, was und wie unsere Arbeit vor dem Hintergrund dieses schrecklichen Krieges, der das Leben von Menschen in vielen Ländern verändert hat, nützlich sein kann.
Nämlich wie?
Wir versuchen hier mit Memorial, Netzwerke aufzubauen und die Lügengeschichten der russischen Propaganda zu widerlegen. Das Regime rechtfertigt diesen Krieg durch furchtbare Verdrehungen der Geschichte und es ist unsere Aufgabe, das auseinanderzunehmen. Und es ist unsere Aufgabe, Beweise für russische Kriegsverbrechen zu sammeln, was Memorial seit 2014 vor Ort macht.
Diese Arbeit ist noch wichtiger geworden. Heute ist es notwendig, neue Möglichkeiten der Bildungs-, der Öffentlichkeitsarbeit, der Wissenschaft und der Medien zu schaffen, um es den Bürgern der Welt – russischsprachigen und nicht russischsprachigen – zu ermöglichen, sich über das totalitäre Erbe Russlands und Europas im 20. Jahrhundert zu informieren.
Mit der deutschen Zivilgesellschaft, mit Historikern, Museumsmitarbeitern, Journalisten, verbindet uns eine jahrzehntelange gemeinsame Geschichtsarbeit. Auch der Name Memorial-Zukunft ist nicht zufällig gewählt. In der russischen Propaganda ist die Zukunft eine Rückkehr in eine mythische Vergangenheit, und der Angriff auf die Ukraine ist ein Krieg um diese imaginäre Vergangenheit. Die Arbeit von Memorial mit der Vergangenheit war immer für eine neue demokratische Zukunft bestimmt.
Sehen Sie noch eine Chance für Russland?
Russlands einzige Chance sich zu verändern ist mit dem Sieg der Ukraine in diesem Krieg verbunden. Und danach mit einem langen, tiefgreifenden Prozess der „Entputinisierung“. Das bedeutet einerseits Aufarbeitung, aber auch, Verantwortung zu übernehmen für die Verbrechen, die Russland in diesem Krieg begeht – gesellschaftlich, juristisch und politisch.