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Die Selbstverwaltung in Nordostsyrien kämpft um ihr Überleben - Eine Reisereportage

www.nd-aktuell.de Perspektive Rojava!?

Die Türkei versucht die Revolution in Rojava zu zermürben. Anita Starosta von medico international berichtet aus der Selbstverwaltungsregion.

Perspektive Rojava!?

Als ich Mitte April die einzige Grenze nach Nordostsyrien von irakischer Seite aus überquere, liegt der iranische Großangriff auf Israel mit über 300 Drohnen erst ein paar Tage zurück.

Auf dem Weg nach Israel trafen mehrere dieser Drohnen weitere Ziele, unter anderem die US-amerikanische Botschaft in Erbil im Nordirak.

Von dort startet für gewöhnlich jede Reise in die Gebiete der autonomen Selbstverwaltung, auf Kurdisch Rojava genannt. Rojava umfasst ein Drittel Syriens, und damit steht ein größerer Teil des Landes unter der Verwaltung einer demokratischen und multiethnischen Regierung.

In Erbil sind nicht nur die Auswirkungen des Gaza-Krieges spürbar. Auch die Annäherung der türkischen Regierung sowohl an Bagdad als auch an die kurdische Autonomieregiung schreitet unaufhaltsam voran.

In wenigen Tagen wird der Autokrat in Erbil erwartet – mich werden später Bilder der bekannten Zitadelle aus neuassyrischer Zeit erreichen, eingehüllt in die Türkeifahne. Beides, der türkische Besuch wie die Huldigung Erdoğans durch die Autonomieregierung unter dem Feudalherren Barzani, signalisieren den Anfang einer neuen Militärallianz, die geschmiedet worden ist, um gemeinsam gegen die kurdische Guerilla im Norden vorgehen zu können.

Am Grenzübergang Sêmalka herrscht derweil reger Betrieb und wuseliges Treiben. Alte, Jugendliche und viele Familien mit kleinen Kindern tragen schwere Gepäckstücke in eine Abfertigungshalle und reihen sich routiniert vor unterschiedlichen Schaltern in lange Warteschlangen ein.

Ich tue es ihnen gleich. Viele halten europäische oder andere ausländische Pässe in den Händen. Über fünf Millionen Syrer*innen leben inzwischen im Exil, der Krieg und die Gewalt haben sie vertrieben.

Die Reisenden vor mir in der Schlange wollen noch ein letztes Mal den schwer erkrankten Vater treffen oder Verwandte endlich wiedersehen, denen vor Jahren die Flucht aus der Kriegsregion zu beschwerlich war.

In allen Gesprächen kommen wir schnell auf die schlechte Lebenssituation in Nordostsyrien zu sprechen.

Auch wenn in der Wartehalle eine eher gelöst-gespannte Stimmung ob der anstehenden Wiedersehen auf der anderen Seite herrscht, eint alle Gesprächspartner*innen die Sorge, was sie erwarten wird.

Alle wissen um den Krieg und die schlechte Versorgungslage. »Wir haben Medikamente und andere nützliche Materialien im Gepäck dabei«, erklärt mir eine junge Mutter, die einst in Qamişlo lebte und in Köln ein neues Zuhause gefunden hat, und öffnet zum Beweis einen vollgestopften Rucksack.

Dann sitze ich endlich in einem überfüllten Minibus, der uns auf einer wackeligen Pontonbrücke über den reißenden Tigris bringt.

Nach einem ähnlichen Prozedere in der Grenzstation der Selbstverwaltung – statt Barzani hängt hier Öcalan in den Büros, und die Mitarbeiter*innen nehmen mich freundlich in Empfang – geht es direkt weiter nach Qamişlo. Die Medico-Partner warten dort auf mich.

Schon auf den ersten Kilometern kommt uns, die Fahne gehisst und schon von Weitem erkennbar, ein US-Panzer entgegen. Geopolitik ist in Nordostsyrien omnipräsent.

US-amerikanische oder russische Militärkonvois, unzählige Militärbasen oder auch die mit überdimensional großen Fahnen bestückte Grenzmauer der Türkei lassen einen nie vergessen, wie umkämpft die Region ist. So absurd es klingt: Bis heute ist das US-Militär der wichtigste Garant und Partner der Selbstverwaltung.

Seit dem gemeinsamen Kampf gegen den Islamischen Staat (IS), den die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten mit Unterstützung der Anti-IS-Koalition unter hohen eigenen Verlusten gewannen, verbindet das US-Militär und die kurdischen Einheiten eine enge, aber auch brüchige Partnerschaft.

Angesichts einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps fragen sich indes viele, ob es wie schon 2019 zu einem Abzug der US-Truppen kommen könnte. Damals ergriff die Türkei die Gelegenheit und besetzte einen Grenzstreifen rund um Serekaniye. Hunderttausende Menschen wurden vertrieben.

Die Selbstverwaltung rief damals das syrische Regime zur Unterstützung herbei. Seitdem ist auch Russland ein geopolitischer Akteur in der Region. Rojava ist die Region, in der die Welt zusammenkommt.

Der Minibus vom Kurdischen Halbmond fährt weiter über die staubige und brüchige Straße. Schnell sind wir in Diskussionen vertieft. Ich bin nicht verwundert, als mir berichtet wird, dass sich seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober und dem darauffolgenden Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung auch in Rojava die politische Lage verändert hat.

Iranische Milizen in Nordostsyrien sind nun aktiver, attackieren regelmäßig US-Militärstationen und tragen zur Destabilisierung der ganzen Region bei. Wie sich eine mögliche Wahl von Trump auswirkt? Alle Mitfahrenden sind sich einige, wie wichtig in diesen fragilen Zeiten in Nahost jeder US-amerikanische Stützpunkt ist.

Als wäre es nicht sowieso schon genug, änderte die türkische Regierung vergangenes Jahr ihre Strategie und begann, mit Raketenbeschuss und gezieltem Drohneneinsatz systemrelevante Infrastrukturen zu zerstören. Darunter befanden sich auch ein für die Versorgung der Bevölkerung wichtiges Elektrizitätswerk sowie Aufbereitungsanlagen für Erdöl.

Eine durchgängige Strom- oder Wasserversorgung gibt es seit Monaten nicht mehr. Mittlerweile sind fast 90 Prozent der Infrastruktur zerstört, ein Wiederaufbau scheint quasi unmöglich.

Milliarden Dollar müssten investiert werden, es fehlt überall an Ersatzteilen. Die kurdische Menschenrechtsorganisation Right Defense Initiative (RDI) dokumentiert das Ausmaß der Angriffe, um so eines Tages Gerechtigkeit erstreiten zu können. Dafür arbeiten sie schon jetzt mit internationalen Strafbehörden zusammen.

Mittlerweile sind wir in Qamişlo angekommen. Nun beginnt die eigentliche Reise, der Besuch ziviler Infrastrukturprojekte, sozialer Einrichtungen und Menschenrechtsorganisationen steht auf der Tagesordnung.

Die meisten Geschäfte und Einrichtungen, an denen ich vorbeikomme, beziehen Strom über laute und dreckige Generatoren oder kleine Solaranlagen. Stromausfälle bestimmen den Alltag in Rojava – eine unmittelbare Auswirkung der türkischen Angriffe auf die Infrastruktur.

Damit ich mir selber ein Bild von der Zerstörung machen kann, planen die RDI-Mitarbeiter*innen mit mir einen Besuch von Orten, die bombardiert wurden: Wir wollen zum Elektrizitätswerk Siwêdiyê, zu einer Gasstation und einer Druckerei in Qamişlo. Alle dienen der zivilen Nutzung, und nach geltendem Völkerrecht ist es ein Kriegsverbrechen, zivile Infrastruktur gezielt zu zerstören.

Doch am Morgen der geplanten Rundfahrt bekomme ich eine Whatsapp-Nachricht vom Leiter der Organisation: »Drohnenalarm«. Wir müssen die Besuche absagen.

Das Sicherheitssystem von RDI funktioniert. Es wäre zu gefährlich, sich jetzt an potenzielle Zielorte zu begeben. Erst vor zwei Tagen kam eine türkische Drohne auf einem Ölfeld runter. Allein 2024 hat die Türkei bei 103 Drohnenangriffen 28 Menschen getötet und 44 weitere verletzt.

Wir beschließen, andere betroffene Orte aufzusuchen, an denen wir uns sicherer fühlen können. In Qamişlo vereinbaren wir einen Termin im einzigen Dialysezentrum der Region; dort treffen wir die Leiterin Gulîstan.

Sie war vor Ort, als das Zentrum am 24. Januar dieses Jahres beschossen wurde. Mit ihr befanden sich 20 Patientinnen und acht Pflegerinnen im Gebäude. Die Angriffe galten der Anlage hinter dem Haus, in der Sauerstoff hergestellt und in Flaschen abgefüllt wurde. Nun ist die Anlage komplett zerstört; die Maschinen wurden durchlöchert, die Aufbewahrungsbehälter versprengt.

Gulîstan sammelt Granatsplitter vom Boden auf und schüttet sie mir in die Hand. Sie erzählt von dem Abend, an dem die Angriffe stattfanden. Obwohl alle Patient*innen vor den Angriffen in Sicherheit gebracht werden konnten, starben in den Tagen darauf zwei Personen, weil sie nicht weiter versorgt werden konnten.

Für einen Monat musste das Dialysezentrum seinen Betrieb komplett einstellen, heute arbeitet es nur eingeschränkt. Eigentlich versorgt es bis zu 70 Patient*innen und führt 600 Dialysen im Monat durch.

Jetzt muss der Sauerstoff für die Therapie über private Unternehmen besorgt werden, was extrem teuer ist und im Unterschied zu früher oft von den Patient*innen selbst gezahlt werden muss.

Gulîstan schaut in unsere Richtung. »Wir können die Sauerstoffanlage nicht wiederaufbauen«, sagt sie hilflos. »Dafür haben wir keine Mittel und keine Ersatzteile. Einige der Patienten werden sterben, und wir können nichts dagegen tun.«

Wir fahren weiter zu den Eltern von Berivan Mihemed. Sie wohnen in einem belebten Viertel in Qamişlo. Ein alter Mann im Anzug macht uns die Tür auf und führt uns durch den Hof ins Wohnzimmer. Es ist der Vater von Berivan. Rasch beginnt er von seiner einzigen Tochter zu erzählen, auf die er so stolz war; er ringt mit sich, um Worte für die große Leere zu finden, die ihr Tod in der Familie hinterlassen hat.

Berivan war Mitte 20, seit fünf Jahren arbeitete sie in der Druckerei in Qamişlo und druckte Magazine, Schul- und Lehrbücher. »Sie wollte mit dem Job unsere Familie unterstützen. Sie wollte unseren beschwerlichen Alltag etwas erleichtern«, berichtet der Vater stockend.

Er erinnert sich noch genau, wie er nach den nächtlichen Angriffen am Morgen des 25. Dezember 2023 auf die Dachterrasse stieg und dort Rauchschwaden aufsteigen sah, wo die Druckerei steht.

Er eilte die Treppe hinunter, sprang in sein Auto, fuhr los. Und kam doch zu spät. Das Gebäude war komplett zerschossen, seine Tochter bereits im Krankenhaus. Auch in der Klinik war nichts mehr zu retten. Als er eintraf, war seine Tochter bereits tot.

Die Mutter von Berivan kommt dazu. Sie stellt ein Bild auf. Tränen rinnen ihr die Wangen herunter. Der Verlust sitzt tief. »Kann es Gerechtigkeit geben? Wo können wir sie finden?«, fragt sie und kennt wohl bereits die Antwort.

Außerhalb Syriens blickt kaum noch jemand nach Rojava, wo unzählige Verbrechen stets aufs Neue begangen werden. Sie werden noch viele Jahre ohne Aufmerksamkeit und ohne Aufklärung ungesühnt vonstattengehen können.

Wir verlassen das Haus und machen uns auf den Weg zur Nothilfe-Organisation Kurdischer Roter Halbmond (KRH), die 2023 die erste zivile Prothesenwerkstatt eröffnen konnte. Tausende Menschen, die im Krieg Gliedmaßen verloren haben, finden hier Versorgung.

Die Zentrale des KRH ist im selben Gebäude untergebracht. Von hier werden Einsätze geplant, Projekte abgewickelt und über 1000 Mitarbeiter*innen in ganz Nordostsyrien koordiniert.

Auf dem Gelände stehen zwei größere Gebäude, die ausgestattet sind, um Brandopfer zu versorgen und Krebsbehandlungen durchzuführen. Sie sind außer Betrieb – die internationalen Geldgeber sind trotz anderer Vereinbarungen abgesprungen. Es ist nicht das einzige Hilfsprojekt, das stillsteht.

Was die Kürzung internationaler Gelder für Hilfsprojekte und bedürftige Menschen bedeuten kann, wird besonders deutlich, als ich das Flüchtlingslager »Washokani« in der Nähe von Hasakeh besuche. Dort leben seit 2019 knapp 17 000 Menschen, die aus Serêkaniyê und Umgebung stammen und durch die Angriffe der türkischen Armee vertrieben wurden.

Der KRH betreibt dort eine »Primary Health«-Klinik und kümmert sich um die Basisgesundheitsversorgung. Akute Notfälle wurden bis jetzt immer in das Krankenhaus unter syrischer Regimekontrolle in al-Hasaka gebracht.

Dort gab es eine Vereinbarung mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), deren Krankenhäuser weitaus besser ausgestattet sind. Doch auch dieses Programm ist mittlerweile eingestellt.

Selbiges gilt für die Gesundheitsversorgung im al-Hol-Camp. In dem geschlossenen Lager leben 50 000 Menschen, fast alle mit IS-Verbindungen. Wie Notfälle künftig versorgt werden sollen, ist völlig unklar.

Im Camp Washokani sind dieses Jahr schon zwei kleine Kinder wegen Dehydrierung gestorben. Die Flüchtlingslager sind extrem von der Hitze und mangelhafter Infrastruktur betroffen. Zwar wurden kleine Solaranlagen für Licht und Handyladestationen aufgestellt, aber für viel mehr reicht es nicht.

»Die internationalen Geber sagen uns, sie hätten kein Geld übrig«, berichtet Dilgesh Issa, der Direktor des Kurdischen Roten Halbmonds, später. »Es werde jetzt woanders gebraucht, wird uns gesagt. Wir verstehen das zwar, aber auch hier ist die humanitäre Lage so dramatisch wie lange nicht.«

Unabhängige Berichte stützen seine Aussage. Die mangelhafte Versorgung wirkt sich auch auf den Gesundheitsbereich aus; zum Jahresbeginn attestierte der UN-Menschenrechtsrat eine humanitäre Krise.

Viele Verletzungen und Krankheiten sind auf eine mangelhafte Versorgung zurückzuführen – sei es Cholera durch verunreinigtes Wasser oder Verbrennungen, weil alte Gasflaschen immer wieder benutzt werden müssen. Der Gaspreis ist um ein Zehnfaches gestiegen, also versucht man sich an billigeren Alternativen.

Nach über einer Woche in der Region mache ich mich wieder auf den Weg zur Grenze. Die Straße, die wir nehmen, verläuft fast parallel zur 2017 von der Türkei errichteten Grenzmauer. Die türkische Fahne weht aufdringlich, die Städte auf der anderen Seite wären ohne die Mauer nur wenige Fahrtminuten entfernt.

Es steht nicht gut um das demokratische Projekt der autonomen Selbstverwaltung im Norden und Osten Syriens. Zwischen geopolitischen Interessen und islamistischen Fanatikern fehlt der Selbstverwaltung ein völkerrechtlich anerkannter Status, der es erlauben würde, auf dem internationalen diplomatischen Parkett über die eigene Zukunft zu verhandeln.

Die Farben der Revolution verblassen merklich. Vielen Menschen geht schlichtweg die Kraft aus, der demokratische Aufbruch und die Hoffnung auf ein besseres Leben schwinden. In dieser erzwungenen Ausweglosigkeit erscheint vielen die Flucht nach Europa als einzige Überlebensperspektive.

Mir bleiben dennoch einige Gespräche mit Menschen in Erinnerung, die sich nicht einschüchtern lassen und an den demokratischen Errungenschaften festhalten wollen. Die Leiterin der Frauenkommission Ewa Pirosî formulierte es bei einem gemeinsamen Abendessen so: »Niemand kann uns die Erfahrung nehmen, eine Gesellschaft selber zu gestalten, in Würde und Anerkennung. Wir haben Rechte erkämpft, die wir nicht wieder herzugeben bereit sind. Das wird uns sehr lange tragen.«

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