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Kurzgeschichte: Augen auf, Herr Birnenbacher!

Nachdem das mit der Science-Fiction letzte Woche eher nicht so gut ankam, gibt es heute wieder etwas humorvolleres als Vorbereitung auf den bevorstehenden Montag.

Augen auf, Herr Birnenbacher!

Berthold Birnenbacher war ein geborener Kämpfer. Nicht dass er jemals gewonnen hätte, aber er hatte den Ring des Lebens so oft schon bestiegen, dass sich eine Stempelkarte fast gelohnt hätte. Jetzt gerade kämpfte Herr Birnenbacher (der aus Einfachheitsgründen im restlichen Verlauf der Geschichte nur noch Herr B. genannt wird) mit einem Stück Klamotte. Siegessicher steckte er seinen Arm in den Hemdärmel, zog den Arm wieder aus dem Hemdärmel, der wider Erwarten ein Hosenbein war, und führte das passende Bein hinein. Ein seufzender Luftstoß entwich dem Auswuchs in der Mitte seines Gesichtes, den man in Fachkreises Nase nennt, durchstrich seinen rhododendronbuschartigen Schnurrbart und verlor sich im Raum. Herr B. tastete sich durch seinen Kleiderschrank, bis er alles gefunden hatte, was er brauchte und hatte schon bald das Wunder der Ankleidung vollzogen.

Früher hatte Herr B. Bücher verlegt, am vergangenen Freitag jedoch seine Brille. Es folgte ein verschwommenes Wochenende, an dem er nicht nur an seine Grenzen, sondern auch sich selbst an vielen Möbeln stieß. Deshalb sollte diese neue Woche auch mit einem Besuch beim Optiker beginnen. Herr B. ahnte noch nicht, dass der Montag bereits bis an die Zähne bewaffnet vor seiner Haustüre auf ihn wartete.

Auf dem Weg zur Wohnungstüre wuchtete Herr B. seinen Zeh gegen das Sofa, das einer Couch aus Synonymitätsgründen sehr ähnlich sah und warf einen kurzen schmerzerfüllten Vokal in den Raum. Doch nicht nur sein Schrei hallte durch die Wohnung. Herr B. vernahm auch noch ein anderes Geräusch. Es war, als ob jemand zusammengerollte Kellerasseln langsam in eine Tupperdose fallen ließe. Was für eine bescheuerte Analogie – dachte sich Herr B. – für Regentropfen, die draußen auf die Fensterbank fielen. Ein zweites Mal innerhalb kurzer Zeit seufzte Herr B. und klang dabei wie ein Löwe, der sich trotz Müdigkeit erhoben hatte, nur um festzustellen, dass es sich bei der vermeintlichen Gazelle um einen Baumstamm handelte. Aber er hatte ja keine andere Wahl. Der Einstieg in seine Schuhe begann problemlos, aber erinnerte ihn im weiteren Verlauf doch wieder an seine Bindungsprobleme. Er griff zum Schirm, griff zum Schirm, ergriff den Schirm und verließ die Wohnung.

Der bereits erwähnte Montag begann seinen Angriff auf Herrn B. mit einem Fettnäpfchen vor der Haustüre, das sich bei näherem Hineintreten als Pfütze entpuppte. Schützend beschirmt, aber nass besockt bahnte sich Herr B. seinen Weg zur Bushaltestelle. Bald schon erschien ihm gelb verwischt ein krummes Etwas vor den Füßen und Herr B. erkannte korrekt, dass es sich um eine Bananenschale handelte. Diese Runde würde er gewinnen. Behutsam stieg er darüber hinweg und fühlte sich wie ein Lachs, der einem Bären geschickt entwichen war, nur um in den Tatzen eines zweiten zu landen.

In diesem Fall handelte es sich allerdings nicht um einen Bären – die sind hierzulande selten anzutreffen – sondern um einen Stand, den jemand aufgebaut hatte. Herr B. erholte sich schnell vom Zusammenstoß und wich ein Stück zurück – so wie ein Lachs das in oben erwähnter Situation nicht mehr tun konnte. Er kniff die Augen zusammen.

Brot für die Welt, las er und dachte sich, dass das sinnvoll sei, auch wenn er eigentlich Brötchen lieber hatte. Ein ganzes Brot war ja auch meist zu viel und er wollte auch nicht jeden Tag Brot essen. Aber das musste man, wenn man ein ganzes Brot gekauft hatte, weil das so schnell hart wurde. Es gab auch diese speziellen Behälter, in die man das Brot stellen konnte. Hatten die einen bestimmten Namen?

Eine Stimme, die klang wie die Stimme einer menschlichen Frau, holte Herrn B. aus seinen Brotgedanken und wünschte ihm einen guten Morgen. Dies tat sie mit folgenden Worten: »Guten Morgen!«

»Ja, hallo«, gab Herr B. zurück und wurde auf der Stelle in ein Gespräch verwickelt.

»Ich bin die Annika«, gab die Annika freundlich zurück, weil sie es so auf dem Seminar gelernt hatte und fuhr fort, »und wir stehen hier, weil wir helfen wollen. Sogar bei diesem scheußlichen Wetter. Aber das ist nichts im Gegensatz dazu, wie es anderen geht.«

»Ja, das ist natürlich …«

»Sie sind so ein schicker Herr, Sie sind bestimmt jemand, der gerne hilft, hab ich recht?«

»Also eigentlich …«

»Sehr schön. Keine Angst, wir wollen auch kein Geld von Ihnen, eine einfache Unterschrift reicht und Sie haben Ihre gute Tat für den Tag erledigt«, sagte die Annika und griff ein Klemmbrett vom Stand, das sie jetzt Herrn B. unter seinen Rhododendron hielt. Herr B. versuchte zu entziffern, was auf dem Zettel stand, aber die freundliche Dame hatte ja zugesichert, dass ihn das nichts kosten würde. Außerdem, so dachte er sich, bekam man ja für jede gute Tat etwas Gutes zurück und an einem Tag wie heute konnte er das erst recht gebrauchen.

Herr B. griff zum Stift, griff zum Stift, die Annika gab ihm den Stift und er unterschrieb. Herr B. war zwar kein richtiger Doktor, sondern nur promovierter Geisteswissenschaftler, aber seine Unterschrift stand der eines echten Mediziners in nichts nach.

»Das ist so cool von Ihnen«, sagte die Annika und studierte die Unterschrift, »Herr Brtrrrrrar …«

»Birnenbacher«, korrigierte Herr B., »Berthold Birnenbacher.« Vielleicht würde ja eines Tages jemand seinen Namen erkennen, ihm ein bisschen Anerkennung für seine wissenschaftlichen Verdienste geben, nur ein kleines »Ich habe Ihre Abhandlung zur Rolle der Zucchini in Goethes frühen, mittleren und späten Werken gelesen und kann Ihnen nur zustimmen, dass diese dort keine Rolle spielt.« Aber die Annika war mit ihrem Kopf längst in einer Kiste verschwunden und tauchte kurz darauf wieder mit einem Glas in ihrer Hand auf, um ihren Satz zu vervollständigen, »… dass Sie uns hier bei Brot für den Wels unterstützen.«

Sie drückte ihm das Glas in die Hand, in dem irgendetwas schwamm.

»Das ist der Matthias«, sagte sie glücklich, »der ist noch ganz klein.« War das ein Fisch? Herr B. versuchte zu erkennen, was da im Glas schwamm.

»Versprechen Sie mir, dass Sie gut auf ihn aufpassen.«

»Ja, aber …«

Die Annika sprang mit ihrer Stimme aus Herrn B.s Blickfeld, weiter zum nächsten Passanten, der sie wenig später mit einem freundlichen »Verpiss dich!« abweisen würde.

Herr B. starrte ins Glas, suchte dann die Annika, schaute dann zum Stand. Er könnte den Fisch einfach wieder dort abstellen. Vorsichtig tastete er sich hinüber und schob das Glas auf den Stand. Glücklicherweise hatte der Montag dort eine zweite Person platziert, die in Herrn B.s Richtung den Zeigefinger und zeitgleich drei Silben schüttelte.

»Na ah ah!« Die Stimme gehörte zu einem Mann, der, obwohl verschwommen, aufgrund seiner Größe sehr mächtig auf Herrn B. wirkte. Das könnte daran gelegen haben, dass er die Kiste mit den Fischgläsern schleppen musste.

»Sie haben unterschrieben und damit versichert, dass Sie die Pflege für einen unserer Notfälle übernehmen. Nicht wahr, Herr …«, der Mann untersuchte das Klemmbrett, »… Brterrttrar.«

»Birnenbacher. Bernhard«, korrigierte Herr B., aber erwartete von diesem Exemplar auch keine Reaktion auf seine wissenschaftlichen Werke.

Folgendes hätte der Mann mit den breiten Armen jetzt gerne gesagt: »Alles klar, Herr Birne.« Dann hätte er ihm einen festen Schlag auf die Schulter gegeben, der sagen sollte: »Geh weiter, alter Mann!«

Genau das alles tat er dann auch, allerdings mit den Worten, die er auf dem Seminar gelernt hatte.

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, sagte der namenlose Mann, so wie jemand das sagen würde, wenn er jemandem genau das Gegenteil wünschte. Herr B. hatte verstanden, dass er gegen diesen Koloss keine Chance hatte. Mit Brille vielleicht aber so nicht. Er ging langsam weiter und überlegte, was man denn überhaupt mit so einem Fisch machte. In der rechten Hand den Schirm, in der linken das Glas mit dem Fisch, wirkte jetzt er wie ein Bär. Abgesehen vom Schirm, den Bären nur zu besonderen Anlässen tragen.

Als er die Bushaltestelle erreicht hatte, versuchte er zu erkennen, wann der nächste Bus kommen würde. Unbebrillt unmöglich.

»Entschuldigung, könnten Sie …«, fragte er eine Frau oder einen Mann oder einen Bären in einem Menschenkostüm, so genau erkannte er das nicht. Sie oder er konnte nicht, da sie oder er weitergeeilt war, ohne Herrn B. zu beachten.

Wahrscheinlich eine weitere Person, die versuchte, dem Montag zu entkommen.

Gerade als Herr B. sich auf die Bank an der Haltestelle setzte, genau in dem Moment, in dem das Hinsitzen vollendet war, kam ein Bus. Herr B. schloss seinen Schirm, schüttelte ihn und trat an den Bürgersteig. Der Bus hielt und die Türe pfiff beim Öffnen leise wie ein Hummer im kochenden Wasser. Herr B. trat einen Schritt hinein, um Tropfen auf den Kopf zu vermeiden.

»Entschuldigung. Fahren Sie zum Seidelplatz?« Mit Bedacht und pflichtbewusst wählte der Busfahrer seine Worte und antwortete Herrn B.

»Jo.«

»Ah, sehr gut, dann steigen wir mal ein«, kommentierte Herr B. vollkommen überflüssig, nicht so sehr für den Fahrer, sondern eher für sich, und stieg dann ein.

»Na ah ah«, sagte der Busfahrer und schüttelte seinen Zeigefinger in Richtung eines Aufklebers an der Türe, »können Sie nicht lesen?«

»Eigentlich schon, aber …«

»Tiere im Bus verboten«, brummte der Fahrer mit Blick auf den kleinen Matthias der ihn mit ganz großen Augen aus dem Glas anglotzte.

»Das ist doch nur ein Fisch«, gab Herr B. zurück.

»Das is mir egal was das is. Wenn ich bei Ihnen jetzt ne Ausnahme mach, dann kommt mir hier morgen einer mit nem Pony an und dann aber Gute Nacht!« Herr B. ging vorsichtig rückwärts aus dem Bus und landete wieder unter dem Dach der Bushaltestelle.

»Na, was machen wir jetzt nur?«, fragte Herr B.

»Laufen«, sagte Matthias nicht, weil Fische nicht sprechen können. Aber das war die einzige Möglichkeit, die Herrn B. übrig blieb, also entspannte er aufs Neue seinen Schirm und ging los. Ihn solle der Blitz treffen, wenn dieser Tag noch schlimmer werden würde.

In der Ferne donnerte es.

Als er am Seidelplatz ankam, war er von oben, von unten und vor allem von links, da dort die Straße verlief, komplett durchnässt. Aber er hatte es geschafft. Er war fast am Ziel. Wo war noch mal dieser Laden? Das sah aber auch alles gleich aus, vor allem ohne Brille. Herr B. ging von Haus zu Haus, um den Platz herum, auf der Suche nach seinem Optiker. Bald schon heurekate Herr B. Das musste er sein. Auf jeden Fall war dort eine riesige Brille im Fenster, das erkannte sogar er. Bei näherem Betrachten, soweit ihm das möglich war, sah er vor dem Laden noch mehr dieser riesigen Brillen, und nachdem er zuerst an eine kluge Marketingstrategie dachte, musste er feststellen, dass Fahrräder großen Brillen sehr ähnlich waren. Vor allem wenn man sie ohne Brille betrachtete. Frustriert entfernte sich Herr B. vom Fahrradladen mit dem äußert kreativen Namen »Radhaus« und stieß dann plötzlich einen weltbekannten Laut aus. Der Laut, den er ausstieß, war der eines Mannes, der den ganzen Morgen durch den Regen rennt und einen Fisch bekommt, obwohl er nur einen Optiker sucht, den er dann endlich findet. Herr B. ging zur Türe.

Verschlossen.

Der Montag setzte zum K.-o.-Schlag an.

Herr B. kniff die Augen zusammen und las das Schild am Fenster der Türe. Lange dauerte es bis er entziffern konnte, was das Schild ihm sagen wollte:

Optiker Venigfrau

Öffnungszeiten:

Di-Sa 9-15 Uhr

Montag Ruhetag.

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