Die da oben, die in Berlin, die Eliten, der Elfenbeinturm: Ist es wirklich so, dass eine Minderheit dem Volk vorschreibt, was es tun und denken darf?
"Niemand will den Bürgerkrieg. Nur warum klingt es häufig so?" Klare Worte in der FAZ, aber leider keine Antwort auf diese Frage, sondern lediglich eine Feststellung.
Wieder ein populistischer Artikel der mit Hufeisen um sich wirft. "Hier aber auch da".
Fakt: 10% der Menschen sammeln 80-90% des Reichtums an
Die selben 10% verursachen ungefähr 50% des CO2 Ausstoßes. (Quelle: Oxfam, 2020)
Dieselben 10% reden den restlichen 90% ein, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben.
Ist deshalb jeder Mensch frei von Verantwortung und Einfluss? Nein.
Aber wir sind so untereinander zerstückelt worden und haben das zugelassen, dass wir keine gemeinsame Front aufbauen können für das Allgemeinwohl. AFD wählen ist eine Reaktion auf "die da sind Schuld dass es dir so schlecht geht", aber "die da" sind bei der AFD eben Ausländer und andere Minderheiten.
Jetzt zu behaupten, dass es das gleiche wäre, sich gegen die Superreichen und Großkonzerne zu verbünden, führt wieder zum gleichen Ziel: "Alle sind gleich Schuld" (solange ihr euch nicht zusammen tut und eure tatsächliche Macht als Arbeiter*innen an euch nehmt, ist uns alles Recht)
AUTORITÄRE RHETORIK
Anstiftung zum Bürgerkrieg
VON CLAUDIUS SEIDL - AKTUALISIERT AM 13.09.2023 - 06:18
Schuld haben immer die anderen. Schuld an allem, was die Mehrheit der Deutschen bedrückt,
verängstigt, einengt, nervt und auf lange Sicht womöglich ruiniert, hat eine Minderheit, die
klein, aber umso mächtiger ist. Sie hat keinen Namen, diese Gruppe, das ist womöglich Teil
ihrer Strategie. Mal wird sie, ganz allgemein, „Elite“ genannt; die „Welt“ nennt sie, nach dem
Ort, den sie angeblich bewohnt, den „Elfenbeinturm“.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ schimpft sie mal linksgrünes Milieu, mal unterstellt sie ein
illegitimes Bündnis aus Politik und Medien. Es sind „die da oben“, „die in Berlin“; es ist „die
Blase“ und bei Friedrich Merz immer wieder: „Kreuzberg“. Monika Gruber, populäre
Kabarettistin und zwischendurch mächtige Aktivistin, antwortete neulich auf die Frage, ob sie
diesen Leuten schon mal in der Wirklichkeit begegnet sei: Nein, aber in Berlin, Prenzlauer Berg,
oder im Hamburger Schanzenviertel gebe es sie bestimmt.
Die Schäden sind ungeheuer. Wenn die deutsche Autoindustrie sich gegen die Konkurrenz nicht
behaupten kann, haben nicht ihre Manager die Schuld; es sind die Technologiefeindschaft und
der Klimafetischismus jenes Milieus. Wenn in Sachsen ein Drittel der Wähler zur AfD tendiert,
können die letztlich gar nichts dafür; es ist nur Reaktanz, die psychologisch verständliche
Abwehr einer empfundenen Gängelung.
Die da oben, die in Berlin, die Eliten, der Elfenbeinturm: Ist es wirklich so, dass
eine Minderheit dem Volk vorschreibt, was es tun und denken darf?
Wenn irgendein Radiomann die Knacklaute vor dem Binnen-I besonders betont, ist er nicht
bloß ein Streber; er will das Volk zum Gendern zwingen. Und wenn Ökologen davon sprechen,
dass die vielen Rindviecher die Atmosphäre verpesten und die Abholzung der Regenwälder
befördern, dann beschreiben sie nicht einen Sachverhalt; sie wollen dem Volk die Wurst vom
Brot und das Fleisch vom Grillrost nehmen.
Veganer nehmen den Tieren die Nahrung weg
Dieses Volk, so beschreiben es die, die in seinem Namen zu sprechen behaupten, ist die
Gemeinschaft derer, denen es reicht. Die sich nicht mehr bevormunden und einengen lassen
wollen. Die eher auf dem Land als in der Stadt wohnen, eher in der Klein- als in der Großstadt,
eher an der Peripherie als in den Zentren. Die mit ihren eigenen Sorgen zu beschäftigt sind, als
dass sie sich dauernd um den Zustand der ganzen Welt kümmern könnten.
Die anderen sind schwerer zu beschreiben – schon weil ein prekär lebender Althippie, der im
Bioladen die Zutaten für sein veganes Abendessen kauft, anscheinend genauso dazugehört wie
der Start-up-Gründer, der ein Elektro-SUV fährt und für jeden Amerikaflug eine
Kompensationszahlung leistet.
Die Links-rechts-Unterscheidung hilft nicht weiter, weil hier niemand die Vergesellschaftung
der Produktionsmittel anstrebt. Ihre Gegner sagen, man erkenne diese anderen daran, dass sie
vom Volk und dessen Leben keine Ahnung haben. Und dass sie ihm dennoch Vorschriften
machen.
Die Unterscheidung erinnert von Ferne an jene populäre und bis vor Kurzem gern zur
Gegenwartsdeutung herangezogene Soziologie, wie sie zum Beispiel Andreas Reckwitz
praktiziert. Der hat in seinem Bestseller „Die Gesellschaft der Singularitäten“ die von ihm so
genannte „neue Mittelklasse“ beschrieben und analysiert, das Milieu jener, „die formal gesehen
über ein hohes kulturelles Kapital von meist akademischen Bildungsabschlüssen verfügen und
im Feld der Wissens- und Kulturökonomie arbeiten“.
Ein Drittel der Gesellschaft rechnet Reckwitz dieser Klasse zu; die anderen zwei Drittel, die er,
zu ungefähr gleichen Teilen, als alte, nichtakademische Mittelschicht und als neue, prekäre
Unterschicht beschreibt, interessieren ihn nur insofern, als sie eben nicht teilhaben an den
Prozessen, die Reckwitz als Ästhetisierung, Stilisierung, Kuratierung des eigenen Lebens
beschreibt.
Wenn das Volk direkt aus dem Politiker spricht
Es scheinen aber genau diese zwei Drittel zu sein, die gemeint sind, wenn Hubert Aiwanger von
den normalen Menschen spricht, von der „großen schweigenden Mehrheit“, die sich „die
Demokratie zurückholen muss“. Sie sind gemeint, wenn Friedrich Merz die Unterscheidung
zwischen Deutschland und Kreuzberg macht. Wenn der Newsletter der „Neuen Zürcher
Zeitung“ berichtet, dass die „Normalbürger“, völlig zu Recht, den Eindruck hätten, es werde ein
Kampf gegen sie geführt.
Wer da spricht, sind naturgemäß nicht die Normalbürger, es sind Minister, Parlamentarier,
einflussreiche Journalisten. Es sind also Menschen, die selbst Teil der beschimpften und
bekämpften Elite sind. Nur dass sie oenbar ein sensibleres Gespür haben für das, was das Volk
wirklich denke und wolle.
Wenn Politiker und Meinungsproduzenten sich aber nicht mehr auf die Schlüssigkeit ihrer
Argumente, die Legitimität ihrer Interessen, die Plausibilität ihrer Annahmen berufen; wenn sie
stattdessen verkünden, aus ihnen oder durch sie hindurch spreche das Volk: Dann ist
Widerspruch nicht möglich. Dann ist schon die Rhetorik autoritär.
Und genau so läuft dann fast jeder Streit. Wenn ein Leitartikler davon spricht, dass Fernreisen
den Urlauber womöglich nicht glücklicher machen, als das eine schöne Radtour tut: Dann sind
Gegenargumente nicht nötig. Dann ist einfach klar, dass jetzt auch die Zeitung den Menschen
das Fliegen verbieten will.
Wenn eine Umweltministerin darauf hinweist, dass die ganze Gülle die deutschen Böden
irreparabel ruiniert: Dann ist klar, dass der Bauernstand ruiniert werden soll. Und wenn ein
linker Besserwisser, nach einem Blick auf die Karte, einwirft, dass Kreuzberg in Deutschland
liege, bekommt er zu hören, dass das Volk genau wisse, was damit gemeint ist. Dass aber er
dort oben, in seinem Elfenbeinturm, eine zu eingeschränkte Sicht habe, als dass er den Witz
und die Wahrheit des Satzes verstehen könne.
Zum Teufel mit den Abstraktionen
Was tut man aber mit einem Gegner, für den Argumente viel zu schade sind? Man jagt ihn zum
Teufel. Man holt sich die Demokratie zurück. Niemand will den Bürgerkrieg. Nur warum klingt
es häufig so?
Es ist, als gäbe es zwei Wirklichkeiten, von denen die eine wirklicher als die andere ist. Es ist, als
gäbe es eine Welt, in der die Leute ihre Rechnungen bezahlen, ihre Autos betanken, ihre Felder
düngen und die Nackensteaks auf den Grillrost legen. Und dann gibt es diesen Raum, meterweit
vom Boden der Tatsachen entfernt, diese Blase, diesen Elfenbeinturm, wo man vor lauter
Abstraktionen die konkrete Realität nicht mehr sieht.
Erderhitzung, Artensterben, Regenwaldvernichtung. Der Juli war kühl, das hat jeder gespürt.
Wo bleibt also der Klimawandel? Das Getreide wächst, das kann man sehen. Dann wird der
Boden schon nicht giftig sein. Das Fleisch liegt im Kühlfach: Soll man es liegen und verderben
lassen?
Es ist vielleicht normal, dass die Dinge, die man sehen, spüren, riechen kann, einem plausibler,
greifbarer, letztlich wirklicher erscheinen als die Schlussfolgerungen, Theorien, Projektionen in
die Zukunft. Wenn allerdings Politiker und Publizisten den Aufstand gegen alle Abstraktionen
zum gerechten Kampf erklären und jeden, der über den Rand eines Grilltellers hinausschauen
kann, als Volksfeind verdächtigen, zumindest aber als abgehobenen Spinner: Dann sind sie
entweder nicht besonders intelligent. Oder sie sind so konsequente Ideologen, wie sie das ihren
Gegnern vorwerfen.
Der Bildungsauftrag als Erziehungsberechtigung
Natürlich gibt es all das, was die Leute in Abensberger Bierzelten oder auf Erdinger
Demonstrationen so stört. Es gibt die Tendenz bei den Öentlich-Rechtlichen, den
Bildungsauftrag als Vormundschaft deuten. Es gibt Leute beim Radio, die gendern so
impertinent, dass man die Ohren zuhalten möchte.
Es gibt, was Fragen der Diversität, der sexuellen Identität oder auch der kolonialen
Vergangenheit angeht, gewisse Gruppen, die für Argumente nicht empfänglich sind und jeden,
der die Dinge dierenziert betrachtet, als Rassisten, transphob oder Reaktionär beschimpfen.
Und es gibt Grüne, die, wenn man sie nur ließe, endlose Verbotslisten erstellen würden.
Falsch sind allerdings die Behauptungen, wonach diese Leute an der Macht seien. Falsch ist der
Befund, dass, wer nicht der „woke-grün-gendersensiblen Norm entspreche“ („NZZ“), nichts
mehr zu melden habe. Falsch ist die Annahme, dass es eine Verschwörung gebe, von den
Klimaklebern bis ins Bundeskanzleramt, mit dem Ziel, den normalen Menschen das Recht,
normal zu sein, zu nehmen.
Der Geist des Ressentiments
Woher kommen also die fast schon bürgerkriegsreife Wut, das nicht zu besänftigende
Ressentiment? Im Herbst vor 19 Jahren, in einem immer noch lesbaren Sonderheft des
„Merkurs“, haben Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel die Funktion des Ressentiments so
beschrieben: „Abzulehnen, was ist, im Namen dessen, was (noch) nicht ist: Dieses
Grundprinzip der Kulturkritik entstammt dem Geist des Ressentiments.“ Das Ressentiment ist
die Abneigung gegen den Sieger, der Widerspruch gegen die politischen und ökonomischen
Eliten. Und gegen die moralischen, was in diesen Tagen besonders wichtig ist.
Ressentiment ist, was die Zu-kurz-Gekommenen empfinden. Nur dass es in der Klimakrise keine
Krisengewinnler geben wird. Alle werden zu kurz kommen. Die Ressentiments heute laufen auf
das Gegenteil von Bohrers und Scheels Definition hinaus: abzulehnen, was sich ändern müsste,
im Namen dessen, was ist.
In dieser Lage ist die Konstruktion eines mächtigen Gegners geradezu lebensnotwendig:
abzulehnen, was zu tun ist, das wäre sonst nur Herzensträgheit, dumpfer Starrsinn, Zynismus
gegen die Nachfahren. Nur wenn es die Gängelung durch die Elite, den Elfenbeinturm gibt, wird
daraus ein Befreiungskampf. Die Freiheit der Deutschen wird an der Tankstelle und der
Fleischtheke verteidigt.
War zwar streckenweise relativ amüsant zu lesen, aber nicht wirklich bahnbrechend erkenntnisbringend. Für alle, die es nicht lesen wollen: die Antwort auf die Frage im Titel lautet wenig überraschend "nein".